Untersee

Objekt:
Untersee   
Realisierung:
2012
Location:
Bodensee Schweiz
Photography:
Brigida González

Kraft und Sinn der Form
Fenster zum See. Der Bodensee liegt im Norden. An einem steilen, vom Ufer etwas zurückgesetzten Hang haben die Architekten Bieler Weith einer Familie ein neues Zuhause gebaut.

[...]

Das Grundstück ist von älteren Gebäuden im zurückhaltenden Landhausstil gerahmt. Zwischen ihnen streckt sich nun ein weit auskragender, dynamisch geschnittener Quader über einem quergelagerten Sockel in Richtung See. Die eingerückte Verglasung betont die forsche Expressivität der Geste. Wie zu den Zeiten der großen Freiheiten in den 1950er und 1960er Jahren, als sich hoffnungsfroher Zukunftsglaube noch ungetrübt in dynamischen und raumgreifenden Kompositionen ausdrücken durfte, feiert auch dieses Haus die landschaftlich privilegierte Lage, dient das Haus einerseits als Werkzeug, um sich den exponierten Ort anzueignen, den es andererseits selbst erschafft. Je länger man das Haus wirken lässt, desto deutlicher wird, wie selbstverständlich es dem Grundstück gerecht wird, wie es dessen Qualitäten weckt und erlebbar macht. Letztlich machen auch die beiden Gebäude rechts und links nichts anderes, nur dass sie sich der Mittel, der Konventionen und des Lebensgefühls einer anderen Zeit bedienen.

Dynamisch und offen
Ein Fußweg führt von unten zum Haus hinauf, aber eigentlich erschlossen wird es von Süden. Ein durch Betonscheiben gefasstes Tor markiert den Zugang, eine niedrige Mauer grenzt kaum merklich zur Straße ab. Von oben wirkt das in den Hang gegrabene Haus deutlich kleiner. Auch hierin findet sich eine Parallele zu den Vorbildern des letzten Jahrhunderts: Auch sie sind eigentlich kleiner, als es die Bilder, als es der erste Eindruck glauben macht. Die von unten spürbare Leichtigkeit, in die sich die kraftvolle Geste auflöst, scheint hier vorerst nur Kraft. Und es wird deutlich, warum dieses Haus der Dynamik der Form, der Auflösung einer orthogonalen Struktur bedarf. Die kerngedämmte Sichtbetonkonstruktion hat eine Stärke von über 60 Zentimetern; Komfortansprüche und Energiesparzwang haben ihren Preis – erst dank der skulpturalen Gestik und der den Außen- mit dem Innenraum verzahnenden Struktur wird aus der technischen Notwendigkeit formale Sinnfälligkeit. Durchblicke frontal und über Eck machen sichtbar, dass sich die Formen aus der inneren, auf das Außen bezogenen Logik erklären: So zeichnet sich die Treppe ab, die von oben über ein Podest mit einem Ausblick ins Freie in den Wohnraum führt, der kleine, nach Südwesten orientierte Hof ist direkt vom Wohnzimmer aus zugänglich.

Im Dialog mit der Landschaft
Einmal im Haus, stellt sich kaum mehr die Frage, ob das Äußere sich vom Inneren herleitet oder umgekehrt, so stimmig sind Außen und Innen aufeinander bezogen. Über die Breite des quergelagerten Sockels öffnet sich das Haus zum See, ein Zwischenpodest auf dem Weg nach oben bietet eine kleine Nische. Zurückhaltende, aber fein gearbeitete Oberflächen – Zementestrich und Feingips an Wänden und Decke – werden ergänzt durch ein den Raum gliederndes Möbel aus Kastanienholz. Oben befindet sich das Zimmer der Tochter und im immerhin zwischen 7 und 8,40 Meter auskragenden Körper das Schlafzimmer des Bauherrenpaars, mit bester Aussicht auf den See und das gegenüberliegende Ufer. Diese Verbindung von Zurückhaltung und Spektakulärem findet man mehrmals: spielerische ironische Brechungen, die das Haus sympathisch machen. In das untere Geschoss führt ein golden gestrichenes Treppenhaus – zu den Arbeitsräumen, die durch Sichtbetonwände als Arbeitsorte charakterisiert werden. Auch von hier sieht man auf den See. Und direkt auf eine makellos gearbeitete Spindeltreppe, ein Betonfertigteil, das wie ein verspieltes Ornament einen Kontrapunkt setzt, so als wolle es sagen, dass man sich weder von dicken Wänden noch von der dynamischen Gestik einschüchtern zu lassen braucht. Diese Ungezwungenheit zeigt sich etwa auch darin, dass der expressiv zugeschnittenen Balkon nicht nur von Wohn- und Esszimmer, sondern auch von der Waschküche durch eine Glastür betreten werden kann. Warum auch nicht? Auch beim Bügeln tut ein Blick nach draußen wohl – durch eines der vielen Fenster zum See.

Christian Holl